
Nadja G.
Die 6-jährige Liv ist auf den ersten Blick ein ganz gewöhnliches Mädchen wie alle anderen auch, dem ist jedoch nicht so. Sie hat Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte und Dinge getan, die kein Kind tun sollte, sie lebt so wie kein Kind leben sollte, im absoluten Chaos. Oben auf "dem Kopf" einer Insel lebt sie ganz abgeschottet mit ihrem sammelsüchtigen Vater, der alles ganz festhält, was er besitzt und nichts mehr hergibt, auch sie nicht. Dann ist da noch ihre krankhaft fettleibige Mutter, die ihre Stimme verloren hat und ihren Kummer mit Essen unterdrückt. Das Chaos nimmt immer weiter zu, bis selbst Liv erkennt, dass es so nicht weitergehen kann... Die Geschichte beginnt mittendrin in der Gegenwart, wird dann jedoch zurückgeworfen in die Vergangenheit, in der die Gründe für das Verhalten des Vaters erkundet werden sollen. Dort beginnt die eigentliche Geschichte, auf "dem Kopf" der Familie. Der Leser erhält tiefe Einblicke in das Familienleben von Livs Großeltern, ihrem Vater und Onkel, zu einer anderen Zeit, als alles noch anders war. Auch wenn ich rückblickend verstehe inwiefern diese Ausschnitte wichtig sind, konnten sie mich nicht fesseln. Die ersten 100 Seiten habe ich mich durchgequält und darauf gehofft es möge bald etwas Spannendes passieren. Die Geschichte plätschert vor sich her und ist auf die psychologische Entwicklung der Charaktere fokussiert, allen voran die Bedeutung des Baumharzes. Die Gegenwartsgeschichte mit Liv fand ich um einiges interessanter und durch die unterschiedlichen Perspektiven konnte ich die Geschehnisse besser einordnen und verstehen. Liv kann einem leid tun, dazu muss ich aber sagen, dass sie so aufgewachsen ist und es nicht anders kennt, was es in meinen Augen nicht ganz so tragisch macht. Dieser Eindruck nahm mit Fortgang der Geschichte ab, als die Leiden von Mutter und Vater immer schlimmer werden und ich darauf hoffte, dass jemand die Familie aus ihrem Elend befreien würde. Das krankhafte Verhalten des Vaters ist so erschreckend und verstörend, doch seine seltsame Liebe zu Liv ungebrochen. Auch zur Mutter hat sie eine einzigartige Beziehung, die jedoch, wie auch zum Vater, bald zu bröckeln beginnt und sich der Zusammenbruch schon erahnen lässt. Das letzte Drittel fand ich am aufregendsten, weil da endlich eine Atmosphäre nach Veränderung aufkommt und Hilfe von außen endlich wahrscheinlich scheint. Früher oder später musste es so kommen. Fazit: Ein ungewöhnlicher, äußerst atmosphärischer Thriller, der den Fokus auf die psychologische Entwicklung der Protagonisten legt, mir jedoch an Spannung mangelte, welche die Geschichte Stellenweise langweilig machte.

Sa Brins
Beklemmendes Familienporträt - Die 6-jährige Liv lebt mit ihrem Vater Jens und ihrer Mutter Maria auf einem abgelegenen Hof im nördlichen Teil einer kleinen Insel, dem Kopf. Wie auch schon sein Vater sammelt Jens krankhaft alle möglichen Dinge, die ihm bei seinen Streifzügen über die Insel in die Hände geraten. Zudem leidet er unter der ständigen Angst, seine einzige Tochter Liv verlieren zu können. So kommt es, dass er seine Tochter schließlich eines Tages als ertrunken meldet und diese sich fortan immer öfter in einem Container auf dem Hof verstecken muss. Mit der Zeit entwickelt sich Jens Liebe zu seiner Tochter mehr und mehr zu einer gefährlichen Obsession. Für „Harz“ wurde Ane Riel zurecht mit vier skandinavischen Krimipreisen ausgezeichnet. Detailliert und schonungslos schildert die Autorin das Leben der Familie Haarder auf ihrem einsamen Hof. So erlebt der Leser hautnah mit, wie sich die Familie immer mehr von der restlichen Inselbevölkerung abschottet und die kleine Liv zusehends in völliger Isolation aufwächst. Die Handlung wird abwechselnd aus der Sicht von Liv, ihrem Vater Jens und ihrer Mutter Maria, welche in Form von Briefen an ihre Tochter zu Wort kommt, geschildert. Besonders deutlich werden die Folgen dieser Isolation, wenn die kleine Liv von ihrem Alltag erzählt. Für sie ist es völlig normal, zwischen all dem Schrott zu leben, den ihr Vater über all die Jahre angesammelt hat, und nachts allein auf Beutezug durch das Dorf zu gehen. Bereits zu Beginn des Buches schildert sie völlig nüchtern, dass sie gesehen hat, wie ihr Vater ihre Großmutter umgebracht hat. Ein wirklich schockierender erster Satz und noch dazu, wenn er von einem 6-jährigen Mädchen kommt. Im Laufe der Handlung gerät die Situation auf dem Hof mehr und mehr außer Kontrolle. Jens Haarder wird nur noch von dem verzweifelten Obsession getrieben, seine Tochter vor der Außenwelt zu schützen, da er fürchtet, sie eines Tages verlieren zu können. Dabei greift er zusehends zu immer drastischeren Maßnahmen. „Harz“ ist ein beklemmendes und düsteres Familiendrama. Die Autorin nimmt sich viel Zeit, um das Leben der Familie Haarder zu schildern und man erhält tiefe Einblicke in das Innenleben der einzelnen Familienmitglieder. So kann man - zumindest ansatzweise - nachvollziehen, warum Jens so ist, wie er ist und wie er diesen Weg einschlagen konnte. Ein spannender Krimi der etwas anderen Art mit Gänsehautgarantie!

Dani Ela
„Im weißen Zimmer war es dunkel, als mein Vater meine Großmutter umgebracht hat“. Schon der erste Satz von Ane Riels Thriller „Harz“ ließ mich erschrocken blinzeln. Ebenso verstörend geht die Geschichte weiter. Die 6-jährige Liv lebt mit ihren Eltern abseits vom Dorf in einem Haus mitten im Wald. Damit sie nicht in die Schule muss, wurde sie von ihren Eltern tot gemeldet. Für Liv scheint dies nicht weiter sonderbar zu sein. Sie erzählt mit einer Selbstverständlichkeit von nächtlichen Raubzügen mit ihren Vater und ihrer Wohnsituation, dass man Gänsehaut davon bekommt. In Rückblicken wechselt die Erzählperspektive zu Livs Vater Jens. Dieser Teil las sich nicht ganz so spannend und hatte einige Längen. Trotzdem ist es für die Handlung wichtig zu sehen, dass auch Jens einst eine ganz normale Kindheit und Jugend hatte, bis alles aus dem Ruder lief. Die Leserstimme auf dem Einband beschreibt es eigentlich ganz gut. Man sympathisiert mit jedem Charakter. Niemand in diesem Buch agiert aus Bösartigkeit. „Harz“ ist vor allem eine Charakterstudie. Was passiert mit Menschen, die in völliger Isolation leben? Abgeschnitten von jeglichen Informationsquellen, Freunden, Input von anderen Personen... Im Falle der Familie Harder führt diese selbstgewählte Lebenssituation zu einem immer größeren Realitätsverlust und einer zunehmenden Ausprägung von Ängsten und irrationalem Verhalten. Ane Riel gelingt es, das Leben der Familie sehr real zu beschreiben, so dass einem bei der Vorstellung von all dem Gerümpel, Dreck und Gestank das Grausen kommt. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Buches sind die Kapitel aus Livs Sicht. Sie ist größtenteils ahnungslos, wie bizarr ihre Lebenssituation ist, da es für sie Normalität geworden ist. Für ihr Alter ist sie überraschend erwachsen und pragmatisch. In gewisser Weise sogar mehr als ihre Eltern. Etwas befremdlich fand ich die Darstellung der Dorfbewohner, da die Kapitel aus Sicht des Gastwirts kindlicher geschrieben waren als die aus Livs Perspektive. Analog zum ersten Satz des Buches gelang es Ane Riel auch den letzten Satz als absoluten Schocker zu formulieren, der mich direkt einen Moment lang sprachlos zurück ließ. „Harz“ war für nicht wirklich ein Thriller, da sich die Spannung in Grenzen hielt, aber ich empfand eine bizarre Faszination, mehr über diese Familie herauszufinden. Die Geschichte war anders als ich es erwartet hatte, jedoch in jedem Fall originell und hebt sich somit von den Büchern ab, die ich in letzter Zeit gelesen habe.