*Zufall* (1913) zertrümmert narrative Erwartungen, indem Flora de Barrals Leben – eine Frau, pendelnd zwischen gesellschaftlicher Vernachlässigung und voyeuristischer Faszination – durch die unzuverlässigen Erinnerungen Marlows und eines anonymen Rahmenerzählers gefiltert wird. Flora, Tochter eines diskreditierten Finanziers, wird zum Prisma für die Genderdynamik des frühen 20. Jahrhunderts, ihre Handlungsfähigkeit erstickt von väterlicher Besessenheit (der gefängnisartigen Liebe ihres Vaters) und den parasitären Sympathien jener, die vorgeben, sie zu „retten“. Conrads struktureller Coup – verschachtelte Geschichten, Gerüchte in Lügen – spiegelt die Fixierung auf Wahrnehmung: Wahrheit wird zur kollektiven Halluzination, geformt von Marlows Vorurteilen und der passiven Komplizenschaft des Rahmenerzählers. Die Handlung hängt an willkürlichen Wendungen (eine Schiffsbegegnung, absichtliches Missverstehen) und rahmt „Zufall“ weniger als Schicksal denn als Kollision menschlicher Kurzsichtigkeit mit gleichgültigen Systemen. Als Liebesroman vermarktet, untergräbt er Romantik: Floras Ehe mit Kapitän Anthony ist ein transaktionaler Fluchtakt, sein Altruismus von Herablassung unterminiert, ihre Dankbarkeit mit Resignation gepaart. Kritiker debattieren seine Unebenheit, doch die wahre Innovation liegt in seiner Anklage des Narrativs selbst – wie Geschichten, ähnlich Währung, Wert durch kollektiven Glauben, nicht intrinsische Wahrheit, gewinnen.
Diese moderne Ausgabe von Conrads klassischem Roman enthält ein neues Nachwort, umfangreiche Referenzmaterialien einschließlich einer Zeitleiste zu Conrads Leben und Werk, ein Figurenglossar und Diskussionsfragen für Gruppen zu diesem literarischen Klassiker. Der Text des Romans wurde leicht bearbeitet, um veraltete Terminologie zu entfernen und ihn für heutige Leser zugänglicher zu gestalten.
Floras Existenz ist ein Palimpsest männlicher Projektionen: Ihr Vater überträgt seine Schande auf sie, Marlow reduziert sie zum „Fallbeispiel“ weiblicher Verletzlichkeit, und Anthony romantisiert ihre Hilflosigkeit als Leinwand für seinen Ritterkult. Conrad entzieht ihr jede Handlungsmacht bis zum Finale, wo ihr stiller Widerstand – die Weigerung, Opferrollen zu spielen – die Männer verstört, die ihr Leid narrativierten. Die Meere des Romans sind keine Metaphern existenzieller Leere, sondern soziale Strömungen; die *Ferndale*, das Schiff, auf dem Floras und Anthonys angespannte Ehe spielt, wird zum schwebenden Panoptikum, wo jeder Blick richtet, verzerrt oder bemitleidet. Zufall hier ist kein kosmischer Witz, sondern Rückstand struktureller Vernachlässigung – Floras Leben wird nicht durch Schicksal, sondern durch Erzählhoheit geformt. Selbst Marlow, dieser „Experte für Geheimnisse“, gesteht, sein Bericht sei „ein Vogelperspektive… mit halbblindem Vogel“. Der wahre Horror sind nicht de Barrals Finanzverbrechen, sondern die Kulturmaschinerie, die Floras Trauma zu Klatsch, dann Legende verarbeitet. Conrads Prosa, untypisch abschweifend, imitiert die Vergeblichkeit, Kohärenz in einer Welt zu suchen, wo Wahrheit erste Opfer kollektiven Storytellings ist. Floras letztes Schweigen ist keine Niederlage – es ist der einzige verbliebene Akt der Selbstaneignung in einer Gesellschaft, die Frauenleben als Unterhaltung konsumiert.